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vielen Dank für Ihre Anfrage. Gerne nehmen wir (IVIM) Ihren Fragebogen, den Sie im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet haben, zur Kenntnis.
Sie haben uns gebeten diesen Fragebogen an unser Netzwerk von intergeschlechtlichen Menschen („Betroffenen“) weiterzuleiten. Sie möchten anhand der Auswertung Ihres Fragebogens die Perspektive intergeschlechtlicher Menschen mit in Ihre Stellungnahme einfließen lassen, damit daraufhin die Situation intergeschlechtlicher Menschen differenziert aufgearbeitet werden kann.
Ihr Fragebogen „zur Situation der Menschen mit Intersexualität in Deutschland“ ist unserer Ansicht nach nicht zufriedenstellend, und wir werden ihn nur mit einer deutlichen Kritik (und mit der Veröffentlichung dieses Schreibens) über unseren Verteiler und an unsere Mitglieder und betreffende Personen senden bzw. auf unserer Webseite verlinken.
Leider fehlt es uns an Kapazitäten, an dieser Stelle eine ausführlichere Kritik zu formulieren, und ist zu diesem Zeitpunkt sicherlich auch zu spät. Dennoch möchten wir kurz auf einige grundlegende und generelle Probleme hinweisen, die wir in Ihren Formulierungen und Fragestellungen gefunden haben.
Generell sehen wir Ihre Formulierung „Menschen mit Intersexualität“ als sehr problematisch an, da sie intergeschlechtliche Menschen, die sich nicht weiter pathologisieren lassen wollen, auch nicht durch Sprache, von vornherein ausschließt. Sie impliziert, dass wir Menschen sind, deren Geschlechtlichkeit ein erworbener und dabei mangelhafter Zustand sei, der einem das Menschsein abspricht und in den Bereich von „Missbildungen“ rückt. Vergleichbar wäre es, statt von Männern und Frauen von „Menschen mit Monosexualität“ zu sprechen. Wie Sie sicher bemerken ändert sich so die Qualität der Bezeichnung. Intergeschlechtliche Menschen haben von Geburt einen Körper mit ganz eigenen Qualitäten und ggf. spezifischen gesundheitlichen Bedürfnissen. Intergeschlechtliche Menschen sind geschlechtlich weder weiblich noch männlich, da sie den Eigenschaften der Normgeschlechter nicht entsprechen und/oder Komponenten von beiden anerkannten Geschlechtern in ihrem Körper vereinen, die jeweilig dem einen oder anderen Geschlecht zugeordnet sind. Ihre Formulierung jedoch setzt von Beginn an voraus, dass es sich hier um eine Art Krankheit bzw. Störung handelt. Sie definieren es zwar als „Besonderheit“ oder difference der Geschlechtsentwicklung, doch erinnert diese Wortwahl an die pathologisierende Definition von DSD (Disorders of Sex Development) und daran, dass der englische Begriff der „Störung“ schon 2005 vom Netzwerk-DSD (damals noch Netzwerk-Intersexualität) mit „Besonderheit“ fehlübersetzt und verbreitet wurde, wohlmöglich um „Betroffene“ nicht zu befremden.
Desweiteren fragen wir uns, welchen Zweck Ihre sehr detaillierten Fragen nach medizinischem Befund, zu Diagnosen, Behandlungserfahrungen medizinischer Eingriffe und Medikation erfüllen sollen. Die Abfrage solcher Daten ist unter datenschutzrechlichen Aspekten sehr bedenklich. Diese Detailabfragen ändern nichts an der Tatsache, dass den meisten intergeschlechtlichen Menschen durch die immer noch gängige medizinische Praxis grundlegende Menschenrechte verwehrt wurden und werden.
Reicht es nicht aus, dass intergeschlechtliche Menschen zumeist ohne ihre aufgeklärte Einwilligung Eingriffen ausgesetzt wurden/werden, deren einziges Ziel es meist war/ist, eine bestimmte geschlechtliche Norm zu erfüllen? Ausserdem gibt es oftmals keine Unterlagen mehr, mit denen intergeschlechtliche Menschen ihre Eingriffserfahrungen belegen oder ermitteln könnten. Nicht alle Menschen mit diesen Erfahrungen werden als medizinisch intersexuell oder als Menschen „mit DSD“ klassifiziert – dennoch sind diese Eingriffe unserer Meinung nach ebenfalls dem binärem Geschlechtersystem geschuldet, dessen normierende Eingriffe unter den Aspekten der körperlichen Unversehrtheit und der Selbstbestimmung in keinem Fall zu rechtfertigen sind.
Ihre Fragen 10) und 11) implizieren, uneingewilligte Eingriffe ohne medizinische vitale Indikation seien in Ordnung und nicht als schwerste Körper- und Menschenrechtsverletzungen zu werten. Das Problem bei Intergeschlechtlichkeit liegt darin, dass es dem System Medizin überantwortet wird, soziokulturelle Herausforderungen und Normüberschreitungen mittels chirurgisch-medikamentöser Eingriffe zu lösen. Auch in Ihrem Anliegen liegt das Grundproblem darin, der Medizin und Psychologie nach wie vor den Expertenstatus in diesen Fragen zu überlassen, und intergeschlechtliche Menschen als „Opfer“ bzw. „Betroffene“ zu stilisieren.
Gerne wären wir bei weiteren Diskussionen, so auch bei der Entwicklung Ihres Fragebogens, einbezogen worden, wie es schon auf Ihrer Veranstaltung vom Juni 2010 durch die Vorsitzende des Verein Intersexuelle Menschen (IM e.V.) vorgeschlagen wurde. Leider erfahren wir erst jetzt von den begrüßenswerten Bestrebungen des Ethikrats, eine Stellungnahme zu diesem Thema zu erarbeiten. Wir wünschen uns, dass Sie uns in zukünftigen Aktivitäten bezüglich dem Thema Intergeschlechtlichkeit frühzeitig einbinden würden, vor allem auch, da wir nicht durch den IM e.V. vertreten werden und stellenweise sehr anders als dieser Verein argumentieren.
Mit freundlichen Grüßen,
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„Umfrage zur Situation von Menschen mit Intersexualität“ des deutschen Ethikrats
Onlinebefragung vom 2. Mai – 22. Mai 2011.
Der Fragebogen des Ethikrats beinhaltet einige schwerwiegende Mängel, auf die wir in unserem Schreiben an den Ethikrat hinweisen. Wir sehen die detailierte Abfrage nach medizinischen Diagnosen und Medikation im Bereich ‚Fragen zur Behandlung‘ einmal unter datenschutzrechtlichen Gründen als problematisch an. Ferner ändern diese Detailabfragen nichts an der Tatsache, dass den meisten intergeschlechtlichen Menschen durch die immer noch gängige medizinische Praxis grundlegende Menschenrechte verwehrt wurden und werden. Ausserdem hat der Ethikrat bisher keine befriedigende Begründung für diese Fragen geliefert.
Bitte berücksichtigt beim Ausfüllen des Fragebogens euer Recht auf Privatsphäre und Schutz eurer Daten:
* Fragen müssen nicht beantwortet und können offen gelassen werden.
* Nutzt die Möglichkeit, Kommentare und Kritik an Fragen zu äussern.
Der Fragebogen ist online hier zu finden: http://ww2.unipark.de/uc/Ethikrat_Intersexualitaet/
Ein PDF zum Ausdruck liegt hier bereit zum herunterladen.
http://www.oiigermany.org/uploads/pdfdaten/FragenkatalogEthikrat.pdf
UPDATE:
Anhörung des Deutschen Ethikrates
(Audioprotokolle der Anhörung)
Statement der IVIM zur Frage der Medizinische Behandlung – Indikation – Einwilligung
Online Diskurs des Deutschen Ethikrates
Der Online Diskurs des Deutschen Ethikrates bietet bis einschließlich Juli 2011 ein Forum, bei dem jede_r aufgerufen ist, sich dort aktiv zu beteiligen und mitzudiskutieren!